Mama

In meiner frühesten Kindheitserinnerung sehe ich mich unter einem runden Tisch mit einem Blechclown spielen, der auf einem Karren sitzt und beim Fahren auf einen Esel einschlägt. Um mich herum sind viele Beine, einige mit Hosen, einige mit Seidenstrümpfen. Ein Paar von denen mit Seidenstrümpfen gehört Mama. Wenn ich mich mit meinem blechernen Eselskarren etwas zu weit unter dem Tisch hervorwage, ziehen sich an dieser Stelle die Beine unter den Stuhl zurück. Das macht auf dem hölzernen Fußboden jedesmal ein schürfendes Geräusch. Ab und zu tatscht mir jemand auf den Kopf, was eine Liebkosung sein soll. Neben mir auf der Erde liegt noch eine grüne Schlange aus vielen Holzgliedern. Wenn ich die hölzerne Gliederschlange am Schwanz packe und sie hochhebe, bewegt sie sich wie lebendig, sogar die Zunge kommt heraus. Über mir redet und redet es, endlos.

Die Beine umschließen mich wie die Gitterstäbe eines Käfigs. In der Runde geht es sehr laut zu, nicht selten wird gestritten, es hört sich zumindest so an, und Mama ist die Wortführerin, ihre helle Stimme übertönt die der andern. Obwohl ich diese Stimme den ganzen Tag höre, kommt sie mir nun fremd vor, anders als sonst. Auch Mamas Lachen klingt anders. Sie ist zwar hier, es wäre mir ein leichtes, ihre Beine zu berühren, und doch ist sie weit weg. Ein dünnrandiger Zwicker, den sie bei solchen Zusammenkünften aufsetzt, verstärkt noch diesen Eindruck. Bei der Hausarbeit und beim Zeitunglesen hat sie ihn nie auf. Wenn alle Platz genommen haben, holt sie ihn mit Daumen und Zeigefinger, die andern Finger abgespreizt, aus dem schwarzlackierten Blechetui heraus, zieht ihn mit beiden Händen auseinander und setzt ihn behutsam auf die Nase. Wie eine Wand steht der Zwicker zwischen ihr und mir.

 

So weit ich mich zurückerinnern kann, war Mama geschäftig. Ihr Arbeitstag hatte sechzehn Stunden, ihre Arbeitswoche sieben Tage. Sie versorgte nicht nur den ganzen Haushalt einer fünfköpfigen Familie, sondern nähte auch noch alles, was wir Kinder anzogen. Aber ihr Selbstgenähtes war nur praktisch, nie kleidsam, nur auf Zuwachs berechnet, nie ganz passend, die Mäntel waren zu dick, die kurzen Hosen zu lang, die Hemden zu weit. Damit machte sie uns zum Gespött in der Straße und zu Außenseitern in der Schule. Als sie mir einmal eine alte Einkaufstasche aus braunem Wachstuch zum Rucksack für die Ferienspiele umnähte, riefen die anderen Kinder mir einen Sommer lang »Taschenbuckel« nach. Auch für andere Leute nähte sie. Sie wusch unsere Wäsche und die unseres Untermieters, eines jüdischen Reisenden, der ihr seine schmutzigen Sachen eigentlich zur Weitergabe an die Wäscherei überließ. Damit die Schwindelei nicht auffiel, mußte meine Schwester Paula jahrelang fingierte Rechnungen der Wäscherei schreiben, und der Untermieter tat so, als merke er es nicht; aber Paula, die ihm die Rechnung mit der sauberen Wäsche zu bringen hatte, wußte genau, daß er nur so tat. Mama tapezierte, strich Decken und Türen, polsterte das Sofa auf, und außerdem dolmetschte sie noch gelegentlich bei Gericht und machte Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche.

Wenn man mich heute fragte: Wie hat sie das alles nur geschafft?, dann müßte ich, mit nach oben gewendeten Handflächen, die jüdische Antwort geben: Nun, sie hat es geschafft! Wie, weiß ich nicht, obwohl ich ihr doch täglich zuschaute. Sie legte die eine Arbeit nur aus den Händen, um die andere zu beginnen, nie ruhte sie aus, kannte weder Mittagsschlaf noch Kaffeepause. Als sie schließlich durch eine schwere Herzkrankheit gezwungen wurde, ständig im Bett zu liegen, begann für sie eine schlimme Zeit.

Die Geschäftigkeit von Mama war zwanghaft, es schien, daß sie es darauf anlegte, sich mit der Arbeit allmählich zugrunde zu richten. Sie wurde böse, wenn man ihr die Arbeit wegnehmen wollte, wenn Papa ihr sagte, sie solle sich einmal hinsetzen und zehn Minuten nichts tun. »Ein Chöchem (: ein kluger Mann, hier in der Bedeutung von »Neunmalkluger«) bist du, ein großer«, konnte sie ihm darauf antworten, »und wer sonst macht die Arbeit? Du vielleicht?« Papa schwieg, und Mama arbeitete noch verbissener.

Und als ob sie nicht gerade genug mit ihrem Haushalt und dem geschilderten Drum und Dran zu tun gehabt hätte, betätigte sie sich zudem in mehreren politischen Vereinigungen. Sie gehörte gleichzeitig dem Vorstand des linksorientierten Jüdischen Arbeiter-Kulturbunds, der Antiimperialistischen Liga und einer Aktionsgemeinschaft zur Abschaffung des Paragraphen 218 an, war aktiv in der Roten Hilfe und der Internationalen Arbeiterhilfe, die beide der KPD nahestanden, und war auch Mitglied der KPD selbst. Fast jeden Abend mußte sie zu Versammlungen oder Sitzungen, oft kamen ihre politischen Freunde auch zu uns ins Haus, kamen und gingen, wann immer sie wollten und zu jeder Tageszeit, manchmal mitten in der Nacht. Unsere Wohnung war Umschlagplatz für Informationen, Treffpunkt und Schwatzecke für überarbeitete Funktionäre.

 

Papa war tagsüber in der Fabrik und abends müde. Nach Feierabend holten Paula und ich ihn an der Hauptwache von der Straßenbahn ab. Dann hatte er immer ein paar Bonbons oder ein Stückchen Schokolade für uns, am Freitag aber, dem Zahltag, auch mal eine ganze Tafel oder ein kleines Spielzeug von einem der fliegenden Händler, die an diesem Tag rings um die Fabriktore gute Geschäfte machten. Er konnte, wenn er ausgeschlafen hatte, das heißt also an den Sonntagen, sehr witzig sein. In der Unterhaltung pflegte er jeden Gedanken mit einer russischen oder jüdischen Sentenz auszuschmücken. Fragte man ihn etwas, so antwortete er oft mit einem passenden Sprichwort. Das imponierte mir sehr. Auch nutzte er die jüdische Eigenart, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten - etwa »Warum sollte ich?« oder »Warum sollte ich nicht?«

So sehr ich ihn auch liebte, ich konnte ihm nicht verzeihen, daß er mir nie Vater, sondern immer nur Großvater war. Als ich geboren wurde, war er achtundvierzig, in meiner Erinnerung ein alter Mann mit dem typisch runden Rücken eines müden Gettojuden, in dessen Gekrümmtheit die ganze Tragik jüdischen Lebens ihren Ausdruck findet. Er war zu alt, um mit mir herumzutollen, zu alt, um mir ein verständnisvoller Freund zu sein, er war immer nur gut und gütig.

Mama zerriß sich für uns Kinder, wenn es darauf ankam, für mich, für die zwei Jahre ältere Paula und für den fünf Jahre jüngeren Alex. Da sie sich aber noch für tausend andere Dinge zerriß, blieb ihr für uns nur wenig Zeit übrig, und am liebsten war es ihr, wenn wir sie nicht störten.

 

Du hast in deinem Leben immer nur Gutes gewollt, Mama, für uns, deine Familie, und für andere, deine politischen Freunde. Du hast dich aufgeopfert. Dein Herztod war letzten Endes der Preis, den du dafür zahlen mußtest. Wenn es einen Gott gibt und wenn er gerecht ist, wird er seine Arme ausgebreitet, um dich geschlungen und dich lange festgehalten haben. Eine ganze Kindheit über habe ich mir gewünscht, daß du mich einmal so umarmen würdest. Aber du hattest nie Zeit dafür, warst immer mit anderen Dingen beschäftigt.

Ich spüre noch die Küsse von Papa, seine Lippen, seinen Bart, weiß noch, wie er mich dabei festhielt. Deine Küsse, Mama, spüre ich nicht mehr. In Erinnerung ist mir nur noch der unangenehme Geruch, wenn du den Zipfel eines Taschentuchs über den Finger gezogen und draufgespuckt hast, um mir damit über die Nase oder den Mund zu wischen. Hast du mir jemals einen Kuß gegeben? Ich erinnere mich nicht mehr daran.

 

Kaiserhof Strasse 12
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